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Der seit über einem Jahr andauernde Krieg in der Ukraine verändert die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in Europa und auf der ganzen Welt. Die vielzitierte Zeitenwende beginnt sich zu manifestieren und erschüttert die etablierten geopolitischen Kräfteverhältnisse. Um diese neue Bedrohungslage zu verstehen, sie theoretisch und historisch einzuordnen, rücken wir diesen Herbst das Thema Krieg in den Fokus.

In Warum Krieg? betrachtet der französische Philosoph Frédéric Gros die aktuellen Ereignisse in der Ukraine vor dem Hintergrund klassischer Positionen der politischen Philosophie. Er untersucht, wie Kriege politisch legitimiert und moralisch gerechtfertigt werden und stellt die Frage, ob es einen gerechten Krieg geben kann.

Zum Schrecken des aktuellen Krieges gehört auch die ruchlose Terrorisierung der ukrainischen Bevölkerung durch das russische Militär: Fast täglich erfahren wir von Vergewaltigungen, Morden, Plünderungen oder Verschleppungen. Besonders schockierend sind Berichte über gefolterte Gefangene, seien es nun Zivilisten oder Soldaten. Für Donatella Di Cesare floriert die Folter überall dort, wo sich Wehrlose in der Gewalt von Stärkeren befinden – zum Beispiel im Einflussbereich diktatorischer Regime. Die italienische Philosophin entwirft in ihrem neuen Buch eine Phänomenologie der Folter und arbeitet ihre enge Verbindung zur Macht heraus.

Krieg und Frieden sind zentrale Motive im Werk der französischen Schriftstellerin Hélène Cixous, deren Mutter in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts als Jüdin aus Osnabrück nach Algerien floh. In zahlreichen Büchern versucht die Autorin die Spannung, die sich in der Geschichte dieser Stadt abgelagert hat, die sowohl Friedensstadt als auch Schauplatz der Terrorherrschaft des Naziregimes gewesen ist, zu ergründen. Pünktlich zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens wird Hélène Cixous in Osnabrück zwei neue Titel in deutscher Übersetzung präsentieren: Wir trotzen den Vorzeichen und Wohlverwahrte Ruinen. Damit prangert sie die Gräuel des Krieges an und setzt zugleich ein literarisches Zeichen für den Frieden.

Nicht nur der Krieg ist heute im Begriff, unsere Welt radikal zu verändern, unbestritten ist auch der Einfluss der Digitalisierung, die schon jetzt bis in unsere intimsten Lebensbereiche vordringt. Durch die Datafizierung und den Gebrauch der omnipräsenten Smartphones kommt es zu einer radikalen Veränderung unseres Verhältnisses zu Raum und Zeit. So die These des Philosophen und Medienwissenschaftlers Roberto Simanowski. Seine humorvoll pointierte Kritik verweist auf die Gefahr eines drohenden Mündigkeitsverlusts, bleibt dabei aber immer differenziert und akzentuiert auch die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Digitalisierung.

Welche Bedeutung haben Geschlechterrollen in der heutigen Gesellschaft? Während es für die einen bereits ein Affront ist, in der binären Geschlechterdifferenz mehr als ein schädliches soziales Konstrukt zu sehen, scheint den anderen kein Mittel radikal genug zu sein, um den vermeintlichen Niedergang der patriarchalen Kernfamilie zu verhindern. Vor diesem Hintergrund sich immer stärker verhärtender Positionen, eröffnen Alain Badiou und Barbara Cassin mit ihrem Buch Der Platoniker und die Sophistin eine erfrischende Perspektive. Mit Blick auf ihre jeweiligen philosophischen Ansätze, die ausgehend von einer gemeinsamen Nähe zur griechischen Philosophie in diametral entgegengesetzte Richtungen tendieren, diskutieren sie verspielt und ohne Scheuklappen die zeitgenössische Bedeutung der Geschlechterdifferenz.

An Badious Dilemma der immer schon erwachsenen Töchter, die dazu verdammt sind, das unreife Verhalten ewig adoleszenter Söhne auszubalancieren, arbeitet sich auch der in Wien lehrende Philosoph Christoph Paret ab. In Initiation und Geschlecht konfrontiert er Badious zugspitzte Analyse der Geschlechterdifferenz mit dem titelgebenden Protagonisten aus Maren Ades Film Toni Erdmann und skizziert so einen unerwarteten Ausweg aus dem juvenilen Kampf der Geschlechter.

Abschließend möchten wir noch auf Denken heißt Nein sagen, das bislang frühste publizierte Werk Jacques Derridas, hinweisen, das ausgehend von dem berühmten Diktum des französischen Philosophen Alain die Frage der Negation und der Widerständigkeit des Denkens erörtert. Dieser Text, der auf einem Seminar an der Pariser Sorbonne basiert, ermöglicht einen Einblick in ein frühes Entwicklungsstadium der Dekonstruktion, das bereits den charakteristischen Stil Derridas erkennen lässt. Zugleich beweist er die zeitlose Aktualität einer philosophischen Position, die sich von Anfang an entschieden jeder totalitären Tendenz verweigert hat.

Das Passagen Lektoratsteam