Im Editorial des Frühjahrsprogramms habe ich über den Anfang der Edition Passagen geschrieben, deren erste sechs Bände ich im Herbst 1985 auf der Frankfurter Buchmesse vorstellte. Aus der Edition Passagen ging 1987 der Passagen Verlag hervor, der heute mit über 1500 lieferbaren Titeln ein fester Bestandteil des gesellschaftskritischen Diskurses im deutschen Sprachraum ist. Viele Entwicklungen dieses Diskurses im deutschen Sprachraum wurden erst durch die Übersetzungsarbeit des Passagen Verlages ermöglicht. Zusammen mit dem Merve Verlag ist das Passagen Programm bis heute die erste Adresse für die Versorgung des deutschsprachigen Diskursraumes mit Übersetzungen aktueller gesellschaftskritischer Strömungen. Die Arbeit dieser Verlage liefert immer neue Denkanstöße und schließt die deutschsprachige Debatte an die internationalen Diskurse an. Trotz ihrer intellektuellen und kulturellen Bedeutung für die deutschsprachigen Länder sind beide Verlage kleine Independents geblieben, wie man heute sagt. Das politische und kulturelle Establishment der Bundesrepublik nimmt ihre Programme allenfalls als randseitige Störungen war, denn sie positionieren sich gegen rechts, lassen sich aber beide nicht in ein Links-Rechts-Schema einordnen und für den woken Konsens des Feuilletons, der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, vieler Kulturbetriebe und der Universitäten vereinnahmen. Wie schon vor 40 Jahren wird der Rechts-Vorwurf genutzt, um politische Konkurrenz zu diffamieren und ohne jede Argumentation auszuschalten. Dass der Säulenheilige des Feuilleton-Konsenses – Jürgen Habermas – „die Franzosen“ bei ihrem Auftauchen in den Programmen von Merve und Passagen als rechts verunglimpft hat, setzte den Ton in der Rezeption französischer Theorie und klebt bis heute wie Pech an ihr. Dabei war dieses im besten Fall auf reiner Unkenntnis beruhende Urteil einfach nur Teil des Selbstbehauptungskampfes des Habermas’schen westlichen Marxismus als führende Kraft des gesellschaftskritischen Diskurses Nachkriegsdeutschlands. In Westdeutschland konnten unter der Hegemonie des westlichen Marxismus keine neuen gesellschaftskritischen Ansätze entstehen, weil die Kritik totalitärer Regime bei der Kritik des Hitlerfaschismus stehen blieb und ausblendete, dass in der der DDR längst ein neues totalitäres Regime entstanden war. Eingeklemmt zwischen der Kritik des von Hannah Arendt als totalitäres Regime analysierten Hitlerfaschismus und der Verkennung der DDR als fortschrittliches Regime war die westdeutsche kritische Theorie festgefahren und unfähig, sich zu erneuern. Anstöße zu einer intellektuellen und kulturellen Erneuerung konnten deshalb nur von außen kommen. Die gesellschaftliche Bedeutung des Passagen Verlages lag darin, die Kritik des westlichen Marxismus als zweiter totalitärer Ideologie des 20. Jahrhunderts in die Bundesrepublik und dann in das wiedervereinte Deutschland und die anderen deutschsprachigen Länder eingeschleust zu haben.
Heute, 40 Jahre nach der Gründung des Passagen Projekts, ist seine Mission aktueller denn je. Um uns herum erleben wir den Kollaps demokratischer Staatswesen und den Aufstieg neuer autoritärer Regime. Gemeinsam ist diesen Regimen, dass sie in der einen oder anderen Form totalitäre Politikvorstellungen zu realisieren versuchen. Die Ausschaltung demokratischer Institutionen und die Konzentration der Macht in den Händen von Autokraten wird überall durch neue oder alte totalitäre Narrative vorbereitet und legitimiert. Wenn uns an unserer demokratischen Lebensweise gelegen ist, müssen wir nicht nur politisch gegen die Erosion demokratischer Institutionen aufstehen, sondern auch die ihnen zugrundeliegenden totalitären Denkmuster offenlegen und bekämpfen. Jacques Derrida, Jean-François Lyotard, Jean-Luc Nancy und all die anderen Autoren, die wir aus dem Französischen oder dem Italienischen übersetzt haben, haben sich seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts genau diese Aufgabe gestellt. Sie sind deshalb der heute wieder aktuelle Anknüpfungspunkt für die Kritik totalitärer Denkmuster und nicht etwa die Vordenker sich überhebender Partikularinteressen, wie es die amerikanische Rezeption dieser Autoren, die auch die Lesart des deutschen Feuilletons dominiert, nahelegt. Das Gegenteil ist richtig: Diese Autoren sind die Erben der Aufklärung, sie haben die Kritik des Totalitarismus der Frankfurter Schule erneuert und aus der deutschen Sackgasse geführt. Diese Denker haben das zeitgenössische kritische Denken zurück zu den Wurzeln der Aufklärung geführt und versucht, deren Werte nach den katastrophalen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts neu zu denken und zu begründen. Dieses Denken ist keine Apologie sich absolut setzender partikularer Interessen, wie das deutsche Feuilleton weismachen will, sondern ein Denken der Vielfalt und ihres Zusammenhangs unter dem Leitstern der Toleranz. Unter diesem Gesichtspunkt sollte man die Autoren der Edition Passagen nach 40 Jahren wieder lesen und an der Entwicklung des kritischen Ansatzes von Postmoderne und Dekonstruktion weiterarbeiten. Denn ihre amerikanische Interpretation ist in der Kritik des Totalitarismus auf halbem Wege stecken geblieben. Mit der Verabsolutierung der Differenz hat sie verabsäumt, den zweiten Teil dekonstruktiven Denkens zu entwickeln und zu erklären, wie aus der Anerkennung der Vielfalt und der Rechte der Vielen gesellschaftlicher Zusammenhalt gedacht und erzeugt werden kann. Ein Versäumnis, das bis heute ein Einfallstor für die Verabsolutierung von Partikularismen bildet. Nur Jean-Luc Nancy hat sehr früh auf diesen Mangel reagiert und die Begründung und Akzentuierung der Differenz durch Jacques Derrida weitergeführt in die Frage, wie auf Basis dieser Differenzen ein Zusammenhang gedacht werden kann. Seit der Gründung der Edition Passagen bemüht sich das Passagen Projekt mit der Weiterentwicklung kritischer Theorie, gegen alle neuen Former totalitärer Herrschaft Widerstand zu leisten – das ist und bleibt auch nach 40 Jahren seine Mission.
Peter Engelmann