In eigener Sache

Der Überfall der mörderischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wirft außer emotionaler Abscheu viele Fragen auf. Damit meine ich nicht nur, dass die Situation der Palästinenser wieder in den Fokus der Diskussion gerückt ist. Ein anderer Aspekt sind die Reaktionen in den westlichen Gesellschaften auf die Selbstverteidigungs-Antwort Israels auf diesen Überfall. Statt Solidarität mit den Opfern der Hamas erleben wir in Deutschland und anderen europäischen Staaten eine Welle der Solidarität mit Palästinensern und unter dem Deckmantel dieser Solidarität einen vehementen Ausbruch des Antisemitismus von rechts und in den migrantischen Milieus, aber nun auch von links – was für viele in diesem Ausmaß unerwartet war. Wer unter dem Motto „from the river to the sea“ demonstriert, marschiert für die Auslöschung Israels mit seinen jüdischen Menschen, ob er sich nun dessen bewusst ist oder nicht. Der Mordfeldzug der Hamas am 7. Oktober hat Menschen gefoltert und getötet, weil sie Juden sind. Wobei diese Menschen in der Mehrzahl liberale und linke Juden waren, die gegen Netanyahus Politik, die für ein demokratisches Israel auf die Straße gingen und für einen friedlichen Ausgleich mit den Palästinensern eintraten.

Wegschauen geht nicht mehr. Die Reaktionen auf den mörderischen Überfall der Hamas auf Israel mit 1200 Toten und über 200 verschleppten Geiseln zeigen unmissverständlich, dass linker Antisemitismus und migrantischer Antisemitismus längst genauso in Deutschland und Europa verankert sind wie rechter Antisemitismus. Merkels Spruch, die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson erweist sich wie so viele ihrer Sprüche als das, was er ist: als leeres Gerede.

Eine scheinbar banale Meldung aus dem deutschen Alltag 2023 zeigt vielleicht besser als alle Analysen, in welchem Land wir mittlerweile leben. In Tangermünde sollte die KITA „Anne Frank“ umbenannt werden, weil die Migranten unter den Eltern angeblich mit dem Namen nichts anfangen können (Quelle NZZ online 10.11.23). Zu erwarten wäre doch ein Aufschrei des deutschen Feuilletons, aber es war kaum ein Piepsen zu hören. Heute scheint der Nie-wieder-Auschwitz-Konsens allenfalls zu einem achselzuckenden „na sowas“ zu reichen.

All das ist nicht neu, es hat sich lange angekündigt. Aber hinter der bequemen Verurteilung der AFD als antisemitisch konnten sich migrantischer und linker Antisemitismus auch in Deutschland prächtig und fast ungestört entwickeln. Außer Nie-wieder-Lippenbekenntnissen von Politikern wurde ihm nichts entgegengesetzt. Die Symbolik der fast kommentarlos versuchten Umbenennung einer Anne-Frank-Kita in Tangermünde ist überdeutlich. Nein, wegschauen geht nicht mehr, Antisemitismus ist kein No-Go mehr im Deutschland 2023.

Bei rechten Kreisen wundern wir uns nicht über Antisemitismus, aber wie kann man antirassistisch und antisemitisch zugleich sein? Die naheliegende Erklärung ist Empathie für das Schicksal der Palästinenser. Aber Empathie allein reicht nicht aus. Bei allem berechtigten Mitgefühl für die palästinensischen Opfer im Gazastreifen, darf man nicht vergessen, dass das Leid der Palästinenser von der Hamas als notwendiges Opfer nicht nur kalkuliert, sondern provoziert wird, um die Isolation Israels und letztlich seine Vernichtung zu erreichen. Laut Aussagen von Hamas-Funktionären sind die furchtbaren zivilen Opfer des Krieges in Gaza für die Erreichung der Ziele der Hamas unvermeidlich. Die Parteinahme für die Palästinenser sollte sich deshalb gegen die Hamas und all die dschihadistischen Gruppen und ihre Ideologen wenden, für die die Zivilbevölkerung in Gaza und anderswo immer nur Spielmasse für die Durchsetzung ihrer politischen Agenda ist.

Worauf es ankommt, wenn man nach einer Lösung sucht, ist, den Krieg im Gazastreifen nicht als Maske für die eigene politische Agenda zu missbrauchen, sondern zu versuchen, die Interessen aller Konfliktparteien zu verstehen und bei allen Lösungsversuchen zu berücksichtigen. Das sollte der Leitfaden bei der Beurteilung dieses Krieges sein.

Genauso wichtig ist außerdem, in alle Überlegungen auch die philosophisch-gesellschaftstheoretische Dimension dieses Konflikts einzubeziehen. Denn der territoriale Konflikt zwischen Juden und Palästinensern im Nahen Osten wird seit jeher durch seine religiöse Aufladung überdeterminiert. Die Verdrängung der weltlichen Palästinenser-Vertretung Fatah durch die islamistische Hamas auf der einen Seite und der zunehmende Einfluss von politisch immer stärkeren orthodoxen Juden auf der anderen, machen aus dem territorialen einen ewigen, unlösbaren religiösen Konflikt. Dabei finden sich auf beiden Seiten auch Kräfte, die um eine friedliche Beilegung des Konflikts bemüht sind. Die tief korrupte Fatah macht es den Menschen dabei schwer, sie als Alternative zum religiös auftretenden Widerstand der Hamas gegen Israel zu akzeptieren. Auf der anderen Seite zeigt der Angriff der rechts-religiösen Kreise Israels auf die Autorität des Obersten Gerichtshofs, wie tief der Riss ist, der durch die israelische Gesellschaft geht und welche Macht die Kreise haben, die Israel als religiös begründeten und legitimierten Staat sehen.

In Europa haben wir nach Jahrhunderten religiös überhöhter Kriege mehr oder weniger gut erkannt, dass es nur einen Weg gibt, trotz aller Unterschiede zu einem nicht-kriegerischen Nebeneinander zu gelangen. Die europäische Aufklärung mit der Verkündung allgemein geltender Menschenrechte und dem Kampf um Demokratie als Staatsform unterschiedlicher Nationen hat einen bis heute dauernden Prozess in Gang gesetzt. Anders als absolutistische Herrschaft, gibt die Demokratie dem Grundgedanken einen Rahmen, dass für alle Individuen die gleichen Menschenrechte gelten. Die europäische Aufklärung hat einen Entwicklungsprozess in Europa eingeleitet, der trotz der furchtbaren Rückschläge im 20. Jahrhundert und dem Überfall Putin-Russlands auf die Ukraine bis jetzt wenigstens in Europa zu einem einigermaßen friedlichen Nebeneinander von früheren Todfeinden geführt hat. Dieser Entwicklungsprozess verläuft nicht konfliktfrei, im Gegenteil, die ständige Auseinandersetzung um Demokratie und ihre Institutionen ist für deren Überleben entscheidend. Demokratie ist nicht nur eine Utopie des Zusammenlebens auf der Basis gleicher Rechte für alle, sondern die ständige Weiterentwicklung und Anpassung an neue Gegebenheiten.

Ein bedeutender Meilenstein der Entwicklung der Demokratie war die Trennung von Kirche und Staat, die dessen Abkopplung von religiösen Feindschaften und damit seine Kompromissfähigkeit erreichen sollte. Dieser Prozess findet auch in der palästinensischen und der israelischen Gesellschaft statt. Sein Gelingen wird über die Kompromissfähigkeit beider Seiten entscheiden. Nur wenn er gelingt, wird es ein dauerhaftes friedliches Nebeneinander von Juden und Palästinensern Nahen Osten geben, das Menschen auf beiden Seiten herbeisehnen und verdient haben. Auch wenn die politischen Akteure, die ihre Daseinsberechtigung, und nicht zuletzt ihr Einkommen, aus der Aufrechterhaltung des Krieges ziehen, das heute noch mit allen Mitteln verhindern wollen.

Peter Engelmann